Wie Menschen sich verbiegen lassen

Geld und Leben


„Geld verdirbt den Charakter“ heißt es immer. Aber was ist damit gemeint?

Meistens meint man wohl damit, daß, wer viel Geld habe, doch nicht genug davon bekommen könne. Je mehr er davon habe, desto stärker verliere er gleichzeitig den Bezug zum, das Mitgefühl für und den Respekt vor dem harten Erwerb desselben durch ein langes Arbeitsleben. So mutiere der Reiche zu einem herzlosen, arroganten Snob. Oder er verpuppe sich eigentlich erst dazu.
Also die Geschichte vom Kamel und vom Nadelöhr.

Aber verdirbt „kein Geld“ etwa nicht auch den Charakter vieler Leute?

Sind weniger begüterte Menschen nicht auch oft bloß neidisch auf die Reichen und würden, wenn sie nur in dieselbe Position gelängen, genau dasselbe hochnäsige und herablassende Getue an den Tag legen wie die, die sie hassen - sich genauso verpuppen? Das im ausgehenden 19. Jahrhundert geschaffene Klassenbewußtsein steckt mit hinter diesen Gefühlen und hat sie befeuert, denn es hat zur Geringschätzung der Arbeit auf Kosten einer zunehmenden Hochachtung des Reichtums, und zwar unabhängig von seinem Zustandekommen, geführt. [1]

Also ganz unabhängig davon, ob und wie die Geldfrage technisch zu lösen sein könnte oder auch nicht, geht es für uns offenbar schon viel früher und vielmehr und überhaupt darum, sich selbst klar darüber zu werden, welchen Stellenwert Geld im eigenen Leben einnehmen „sollte“, möglicherweise gar „muß“, oder vielleicht auch nur „darf“, also welchen Platz wir ihm einräumen, zugestehen möchten, was wir ihm uns gegenüber erlauben.
Das entscheidet jeder für sich selbst, ob er sich die Freiheit dazu zu nehmen weiß oder nicht.

Denn die Überlegungen dazu und die Entscheidungen, die wir diesbezüglich treffen – und jeder trifft sie, ob bewußt oder unbewußt - prägen unser Dasein in dieser heutigen kapitalistischen Welt außerordentlich stark – und sehr entscheidend (wie an den kleinen Beispielen oben ja schon leicht erkennbar).

Für den Verfasser dieser Zeilen hat sich aus seiner eigenen Erfahrung etwa folgendes Ergebnis herausgeschält:

Ins innerste Zentrum gerückte, zum Lebensmittelpunkt erhobene Abwehr von Geldsorgen und Sicherheitsdenken sind nur lahme Krücken, die gegen eine generelle Angst vor dem Leben und fehlenden Mut abstützen sollen. Menschen, die so leben, verbringen all ihre Tage in einer fast als tragisch zu bezeichnenden inneren Gefangenheit, aus der sie sich nicht heraustrauen. Sie leben niemals ihr eigentliches, ihrem Wesen entsprechendes, eigenes Leben und können darum dann natürlich auch niemals eine Stütze für andere sein, sondern sind letztlich immer nur eine Belastung. Denn beim ersten Windstoß geraten sie in Panik und fallen um.
Warum? Weil sie nicht bei sich sind. Sondern am Äußeren hängen.
Das mag sich sehr radikal anhören, aber letztlich läuft es tatsächlich so ab.

Doch besiegt man seine Ängste, indem man ein Leben lang hinter irgendetwas Äußerem (hier: Geld) herrennt? Geld, das diese Ängste zwar, allerdings wiederum auch nur äußerlich und damit auch nur scheinbar, lindern und besänftigen mag, sie aber gerade durch diese intensiven Anstrengungen dennoch in ihrer Bedeutung und Wirkung innerlich immer noch weiter erhöht und steigert, ja sie gerade durch das Abwehrverhalten erst recht zum zentralen Lebensinhalt macht?

Andererseits: wieviele Probleme sind jemals gelöst und wieviele Schwierigkeiten überwunden worden dadurch, daß, die man die Augen vor ihnen verschlossen hätte und einfach davongerannt wäre?

Beide Wege scheinen hier nicht zum Erfolg zu führen. Ja und jetzt?

Angst kann man nicht besiegen durch Abwehrverhalten oder Davonrennen, sondern indem man ihr entgegentritt, sich ihr gegenüberstellt, sich mit ihr auseinandersetzt und sie überwindet, indem man ihren Urgrund entdeckt und ihn beseitigt. Und der liegt wiederum nicht im Äußeren begründet, sondern in einem selbst, in der inneren Verfaßtheit zum jeweilig Ängstigenden. Diese gilt es also anzugehen. [2]


Auf dieselbe Weise heilt man auch Krankheiten.
Erst dann also, wenn man sich dem Geld und der Macht, die es zweifellos ausübt, selbstbewußt, sozusagen als Rivale auf Augenhöhe, gegenüberstellt, ungeachtet aller äußeren Zwänge, ist man in die Lage versetzt, nicht mehr endlos nur nach seiner Pfeife tanzen zu müssen, sondern dies irgendwann einmal frei nach dem eigenen Rhythmus zu tun.

[1]
Oswald Spengler, „Preußentum und Sozialismus“, 1919, Kapitel 20: „Der Marxismus verrät in jedem Satze, daß er aus einer theologischen und nicht aus einer politischen Denkweise stammt. [...] Die Worte Sozialismus und Kapitalismus bezeichnen das Gute und Böse dieser irreligiösen Religion. Der Bourgeois ist der Teufel, der Lohnarbeiter der Engel einer neuen Mythologie [...]. Die soziale Evolution ist der »Wille Gottes«. Das »Endziel« hieß früher die ewige Seligkeit, der »Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft« das jüngste Gericht. Damit lernt Marx die Verachtung der Arbeit. [...] In den Begriffen Bourgeoisie und Proletariat stehen die rein englischen Wertungen von Händlergewinn und Handarbeit sich gegenüber. Das eine ist Glück, das andre Unglück, das eine vornehm, das andere gemein. Der Haß des Unglücklichen aber sagt: das erste ist der Beruf des Bösen, das zweite der des Guten. [...] Hätte Marx den Sinn der preußischen Arbeit verstanden, der Tätigkeit um ihrer selbst willen, als Dienst im Namen der Gesamtheit, für »alle« und nicht für sich, als Pflicht, die adelt ohne Rücksicht auf die Art der Arbeit, so wäre sein Manifest vermutlich nie geschrieben worden. [...] sein Haß gegen die, welche nicht zu arbeiten brauchen. Der Sozialismus Fichtes würde sie als Faulenzer verachten, [...] Marx aber beneidet sie. [...] Er hat dem Proletariat die Mißachtung der Arbeit eingeimpft. Seine fanatischen Jünger wollen die Vernichtung der ganzen Kultur, um die Menge der unentbehrlichen Arbeit möglichst herabzusetzen. [...] Arbeit ist ihm eine Ware, keine »Pflicht«: das ist der Kern seiner Nationalökonomie. [...] der Arbeiter wird Händler mit seiner Ware »Arbeit«. Das Geheimnis der berühmten Phrase vom Mehrwert ist es, daß man ihn als Beute empfindet, die der Händler der Gegenpartei davonträgt. Man gönnt sie ihm nicht. Der Klassenegoismus ist zum Prinzip erhoben. Der Handarbeiter will nicht nur handeln, sondern er will den Markt beherrschen. Der echte Marxist ist dem Staat aus genau demselben Grunde feindlich gesinnt wie der Whig: er hindert ihn in der rücksichtslosen Verfechtung seiner privaten Geschäftsinteressen. Marxismus ist der Kapitalismus der Arbeiterschaft.“ Aus Oswald Spengler „Politische Schriften 1919-1926“, Manuscriptum, Waltrop und Leipzig, 2009, S. 84-87, Hervorhebungen im Original.

[2]
Oswald Spengler, „Preußentum und Sozialismus“, 1919, Kapitel 14: „Es entstanden [...] in Schwaben und Preußen jener Pietismus, dessen stille Wirkung gerade in dem aufsteigenden preußischen Menschen gewaltig war. Nach außen dienend, gehorsam, entsagend, in der Seele von den Einschränkungen des Lebens frei, von jener zarten, tiefen Fülle des Gefühls und echten Herzenseinfalt [...] so besaß der einzelne eine fast dogmenlose, vor anderen schamhaft verhüllte Frömmigkeit [...]. haftet dem Pietismus [...] etwas Unpraktisches und Provinziales an. [...] das ganze Leben war ein Dienst; dieses karge Stückchen Erdendasein inmitten von Jammer und Mühe hat seinen Sinn nur im Banne einer größeren Aufgabe.“ Aus Oswald Spengler „Politische Schriften 1919-1926“, Manuscriptum, Waltrop und Leipzig, 2009, S. 50-51, Hervorhebungen im Original.